Demokratiedefizite hinterm Werkstor

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Die jüngste Leipziger Autoritarismus-Studie untersuchte erstmals die gesellschaftspolitischen Einstellungen lohnabhängig Beschäftigter. Diese werden vorwiegend von sozialen und weniger von kulturellen Gegensätzen geprägt.

Angesichts von Krieg, Inflation und Klimakrise sind fundierte Daten zur gesellschaftlichen Stimmungslage wichtiger denn je. Schon seit zwei Jahrzehnten misst ein wissenschaftliches Team am Else-Frenkel-Brunswik-Institut der Universität Leipzig den Grad der Unterstützung für die Demokratie, aber auch die quantitative Verbreitung von Ressentiments wie Chauvinismus oder Ausländerfeindlichkeit. Bekannt wurde das 2002 gestartete Langzeitprojekt als “Mitte”-Studien, seit 2018 trägt es den Namen Leipziger Autoritarismus Studien. Im Zweijahresrhythmus erscheinen die Ergebnisse repräsentativer Befragungen zum Thema. Die mittlerweile elfte Auflage der Reihe stammt von Ende 2022.

Finanzielle und logistische Hilfe erhält die Forschung von der gewerkschaftsnahen Otto-Brenner-Stiftung und von der Heinrich-Böll-Stiftung. “Mit der Unterstützung der Studie hoffen wir, zu einer informierteren Diskussion und einer die Demokratie stärkenden gesellschaftspolitischen Debatte beizutragen”, heißt es im gemeinsamen Vorwort. Gerade für die Bildungsinhalte im gewerkschaftlichen Umfeld, betonen die Verfasser:innen, seien die in der aktuellen Untersuchung erhobenen Daten wichtig. 

In den Sozialwissenschaften wird seit einigen Jahren über eine Verschiebung gesellschaftlicher Konfliktlinien diskutiert. Danach haben kulturelle Differenzen an Bedeutung gewonnen und überlagern vor allem in akademischen Kreisen sozioökonomische Unterschiede. Teile der Arbeiterinnen und Arbeiter sowie der unteren Mittelschicht nehmen dieser Lesart zufolge Gegenpositionen zu den Prioritäten (neo)liberaler und weltoffener Eliten ein, vor allem bei strittigen Fragen wie Gender oder Migration. Der lebensweltliche Kontrast zwischen bodenständigen “Somewheres” und kosmopolitisch orientierten “Anywheres”, wie sie der britische Autor David Goodhart treffend charakterisiert hat, führe zu populistischen oder gar rechtsextremen Haltungen in abgehängten proletarischen Milieus.

Schicht und Klasse

In einer Teilbefragung der letzten Leipziger Autoritarismus Studie haben Johannes Kiess, Andre Schmidt und Sophie Bose frühere Erkenntnisse zum Bewusstsein von Arbeiterinnen und Arbeitern aktualisert. Die Auswertungen zeigen nach Ansicht des Forschungsteams, dass abhängig Beschäftigte weiterhin vor allem wirtschaftliche   Interessengegensätze als “maßgebliche gesellschaftliche Widersprüche” wahrnehmen. Konflikte, die sich auf Religion, unterschiedliche Herkunft oder Geschlecht zurückführen lassen, werden dagegen als “als weitaus weniger prägend für unser Zusammenleben angesehen”. Kategorien wie soziale Schicht oder Klasse, so die Forderung der Autor:innen, müssten daher ein zentraler wissenschaftlicher Ansatzpunkt bleiben. Doch dieser Aspekt, bedauert Mitverfasser Andre Schmidt, sei derzeit leider “unterbelichtet”.

Bereits 1950 entwickelte Thomas H. Marshall sein Konzept von “Industrial Citizenship”. Mit diesem Begriff umschrieb der Londoner Soziologe gelungene Formen betrieblicher Beteiligung durch die Garantie von Mibestimmungsrechten.  Echte Partizipation in Arbeitsbeziehungen reduziere rechtsextreme Einstellungen, mindere die Abwertung anderer und stärke die Demokratie. Das deckt sich mit den Ergebnissen aktueller Forschungen, denen zufolge der Verlust von Handlungsfähigkeit die Übernahme rechtsextremer Weltbilder begünstigt. Sophie Bose konstatiert in der Leipziger Untersuchung eine ausgeprägte Konfliktwahrnehmung im Arbeitermilieu, beschrieben mit keineswegs überholten Gegensatzpaaren wie “Oben-unten” oder “Arm-reich”. Gleichzeitige Ohmachtserfahrungen führten jedoch zu “starker politischer Deprivation” und erhöhten die Anfälligkeit für autoritäre Deutungsmuster.

Nach dem Streik zur AfD-Demo

Das “Unbehagen am Kapitalismus” sei heimat- und orienterungslos geworden, analysiert der Jenaer Soziologe Klaus Dörre. Vor allem den Osten Deutschlands charakterisiert die Wissenschaft als “demobilisierte Klassengesellschaft”. Kiess, Schmidt und Bose beziehen sich in ihrer Studie vor allem auf Beispiele aus der früheren DDR, einer Region mit nach wie vor geringer Tarifbindung, niedrigem gewerkschaftlichem Organisationsgrad und einer kaum entwickelten Zivilgesellschaft. Sie verweisen auf eine gespaltene Wahrnehmung der Befragten: So gebe es Beschäftigte, die sich im Betrieb zwar an Streiks beteiligen, “danach aber zur AfD-Demo gehen”. Arbeitsplatz und Gesellschaft würden nicht verknüpft, die Sphären blieben gedanklich strikt getrennt.

Vor allem in westdeutschen Großbetrieben ist die Konstellation ganz anders. Bei Volkswagen im niedersächsischen Salzgitter zum Beispiel, betont Jessica Knierim von der Vertrauenskörperleitung, sei die IG Metall ein echter Machtfaktor. Die Gewerkschaft positioniert sich auch jenseits der Werkstore, ist beteiligt an einem breiten kommunalen Bündnis gegen Rechts und wird dabei sogar von der Firmenleitung unterstützt. So entstand ein starkes Gegengewicht zu den (auch hier durchaus vorhandenen) populistischen und antidemokratischen Ansichten in der 7000-köpfigen Belegschaft.

Bei Daimler-Benz in Stuttgart-Untertürkheim versuchen Gewerkschafter:innen, das “Zentrum Automobil” auszubremsen, das mit inzwischen sieben Mitgliedern im Betriebsrat sitzt. Die in Opposition zur IG Metall-Liste angetretene Interessenvertretung wird von AfD-nahen Kräften unterstüzt. Das Zentrum prangert die angebliche Verteufelung des Autos an, wendet sich gegen jede Verkehrswende und verteidigt mit nationalistischen Untertönen den eigenen “Standort”. Lukas Hezel vom DGB-Bildungswerk Baden-Württemberg empfiehlt eine langfristig angelegte Strategie. Aufklärung allein reiche nicht, um für rechte Ideologien anfällige Arbeiter:innen zur Umkehr zu bewegen. Prägender seien “praktische Erfahrungen von Solidarität” etwa während eines Streiks.

Ein ähnliches Fazit zieht die Leipziger Autoritarismusforschung. “Beteiligungsprozesse verbunden mit politischem Lernen bieten am ehesten einen Zugang”, berichtet Andre Schmitt von seinen Gesprächen im ostdeutschen Niedriglohnsektor. In vielen Regionen Sachsens stünden Gewerkschaften in “direkter Konkurrenz zu rechten Bewegungen”. Vor allem im ländlichen Raum fehlt der zivilgesellschaftliche Faktor, Parteien jenseits der AfD seien dort kaum präsent. Die Politik, ergänzt seine Kollegin Sophie Bose, müsse bei betrieblichen Auseinandersetzungen mehr Gesicht zeigen und persönliche Unterstützung anbieten. Die Gewerkschaften könnten “nicht alles lösen”; nur gemeinsame Aktionen der demokratischen Kräfte hätten die Chance, rechtsextreme und autoritäre Einstellungen zurückzudrängen.   


Literaturhinweis

Johannes Kiess, Andre Schmidt, Sophie Bose: Konfliktwahrnehmungsmuster der abhängig Beschäftigten in Deutschland. In: Oliver Decker, Johannes Kiess, Ayline Heller, Elmar Brähler (Hg.): Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten. Neue Herausforderungen - alte Reaktionen, Seite 271-305. Psychosozial-Verlag, Gießen 2022, 29,90 Euro.